Claudia Kübler: Schürfung und Bergung
5. Dezember 2010 – 30. Januar 2011
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Von Sachseln wusste ich nichts mehr. Ausser dass ich da einmal einen kohlenrabenschwarzen Sonntagszopf in einem Schaufenster nahe dem Bahnhof gesehen hatte. Aber ich erinnere mich an den Berg nahe Sachseln, genauer an den Hausberg von Sachseln, das Stucklichrüz. Ich war dort an einem prächtigen Herbsttag. Oben auf dem Gipfel, der nicht so recht ein Gipfel sein will, unter dem Kreuz und über dem Nebelmeer sind wir eingeschlafen. Als ich oben war sah ich auf schöne Berge, in denen ich noch lieber gewesen wäre, ich erinnere mich an eine nahe Bergkette, moosgrün und faltig, wie ein Vorhang. Ich erinnere mich nicht mehr an die Form des Berges oder an die Konturlinie des Grates, eher an die Art der Falten im Innern.
Vier Definitionen: Schürfung: nach Gold, Steinen, Diamanten, anderen Rohstoffen oder dem Glück schürfen Schürfung: leichte Verletzung der Hautoberfläche durch Abreiben derselben verursacht Bergung: Bergförmige Form Bergung: Rettung von Lebewesen oder Objekten aus einer Notsituation.
Die Zeichnung ist ein dichtes Liniennetz, das ich wie eine Haut zu einer Landschaft aufspanne. Auch die Berge können als Haut gesehen werden, altgeworden und faltig. In die Felsen und Täler schmuggeln sich Krusten, Zellen, Schorf, Grind, Schwarten, Haare, Schnitte und Kratzer. Der ganze Erdmantel ist eine Membran, die ein flüssiges Erdinneres zusammenhält. Immer wieder gibt es Verletzungen oder Öffnungen in diesem Einband, welche das Innere sichtbar machen. Ist die Zeichnung eine Ablagerung? Sind die dunklen Striche ein Einpacken oder Bepacken der Oberfläche mit Material? Wird bei der Zeichnung nicht etwa die weisse, intakte Schicht verletzt? Wird da nicht Schnee und Eis weggeschaufelt, abgeschürft? Sind die Striche wirklich Additionen, ist es nicht vielmehr so, dass der Strich die Form freikratzt?
Vielmehr als eine Berglandschaft ist es die Erinnerung an Berge, es ist das Urmaterial Berg, das ich zeichne und suche. Es ist der Versuch, den Berg gleichzeitig und multiperspektivisch darstellen zu können und aus den verschiedensten Winkeln Blicke auf diese Landschaft oder Haut zu werfen. Es ist der Wunsch, einen Berg von Innen zeichnen zu können. Die Dichte von Linien, welche den Blick in das eine oder andere Tal führt, ist eine Erinnerung und Ahnung von Formen, von Erkenntlichem. Die Zeichnung balanciert auf dem Grat zwischen Abstraktion und Figürlichkeit. Schürfung ist auch als Suche gemeint. Die Zeichnung schürft an der Erinnerung, in der Erinnerung nach Gesehenem oder Gewusstem, und sie ist gleichzeitig der Versuch, etwas davon zu bergen, hinüberzuretten.
Claudia Kübler, 2010