Lorenz Schmid: Nachtkerzen essen
5. September 2010 – 31. Oktober 2010
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Als mich die Anfrage, das „schau! fenster“ zu bestücken im letzten Winter hoch im Norden Finnlands erreichte, war ich dabei, während der langen schwarzen Winternächte die Strassen und Parks zu fotografieren. Die Lichtkegel der Kunstlichtlampen verwandelten die Strassen und Parks in kleine Modelle. Schnee lag unwirklich im Kunstlicht auf den Gartenhäuschen und den verwaisten Spielplätzen, als handle es sich um ausgeleuchtete Kulissen für ein Stück, das nicht aufgeführt wurde.
Eines Nachts, es war so kalt, dass die Mechanik der mitgebrachten Grossformatkamera einzufrieren drohte, zeigte sich am nächtlichen Himmel ein sonderbares farbiges Flackern. Immer stärker zeichnete es sich ab: Als hätten plötzlich alle Schornsteine der Stadt sich in Bunsenbrenner verwandelt, schossen die Flammen empor: Gelb die eine, blau die andere. Während ich mit dem Fahrrad unter dem verzauberten Himmel hin- und herfuhr, ging mir das Wort „Nachtkerzen“ nicht mehr aus dem Sinn. Der Spuk dauerte einige kalte Stunden. Als ich anderntags die entwickelten Fotografien in den Händen hielt, wusste ich, dass mich kein Fiebertraum, keine Kälte-Halluzination getäuscht hatte. Aber was ich gesehen hatte, wusste ich deswegen noch lange nicht.
Während meinen Nachforschungen stiess ich in der Zentralbibliothek Zürich auf ein Flugblatt aus dem 16. Jahrhundert, welches einen in Flammen stehenden Mond zeigt: Zweifellos musste es sich um dasselbe Phänomen handeln. Die Bildlegende erklärte, gemäss dem Wunderzeichenglauben jener Zeit seien solche Erscheinungen als göttliche Warnung verstanden worden.
Heute können wir die holographisch schillernden Lichter über unseren Köpfen auf in windstiller Luft kreisende, langsam sinkende und dabei das Licht spiegelnde Eiskristalle zurückführen. Auch heute lassen die lanzettenförmigen Lichter, die vor der Erfindung des elektrischen Lichtes nur an Sonne und Mond betrachtet werden konnten, ihre Betrachter keinesfalls kalt. Wenn an ihnen der Blick haften bleibt wie am Pendel eines Hypnotiseurs, erwacht ein vergessen geglaubtes, tief verborgenes Unbehagen, und wird für Augenblicke ein neuer Blick auf die Welt möglich. Dann fällen sich an den aufrechten nächtlichen Flammen Bilder aus, die in Farbigkeit einem Bunsenbrenner nicht nachstehen, wenn man ihn mit Salzkristallen würzt.
Im „schau! fenster“ steht dem historischen Flugblatt von 1561 die Fotografie jener kalten Nacht gegenüber, und erlaubt es eine Laborsituation dem Betrachter, das in Spektralfarben aufgefächerte Phänomen per Knopfdruck zu simulieren. Dabei rotiert ein Kristall-Modell um seine vertikale Achse und simuliert so eine ganze Wolke aus Eiskristallen in verschiedensten Lagen. Der Ausstellungsraum der Bahnhofstrasse 6 wird so zum Schauplatz eines kunstlichtbetriebenen Kerzentraums und zur glitzernden Atmosphäre aus Kunstschnee.
Die Vertikalität der Nachtkerzen. Nächtliches Fotografieren bei atmosphärischen Phänomenen und minus 30 Grad.
Der Offizier der finnischen Armee, der die Schweiz liebt, erzählt uns, Lapplands Hauptstadt sei durch Lachsfang gross geworden. Und sie ist gross, flächenmässig die grösste Stadt Europas. Wenn man den Wald mitrechnet. Vor dem Krieg, erzählt er, habe es im Fluss von Lachsen gewimmelt. Ich stelle mir einen zuckenden Strom vor, der in zwei Richtungen fliesst: Wasser stromab-, Lachse stromaufwärts. Dann kam der Krieg, und mit ihm kamen deutsche Soldaten als Waffenbrüder gegen Russland. Bis zum finnisch-russischen Sonderfrieden, dann war es mit der Bruderschaft aus. Nach dem Abzug der Truppen ragten bloss noch brandschwarze Schornsteine wie verbrannte Zündhölzer aus den Trümmern, die einstige Stadt glich einem abgeholzten Wald. Nachdem die Flakfeuer erloschen waren, begann der Wiederaufbau. Der brauchte Energie, also musste ein Flusskraftwerk her. Die Lachse waren das Hindernis nicht gewohnt und verlernten das Wandern binnen einiger Jahre. Die Lachse irren auch in dieser Nacht in schwarzem Wasser vor den Turbinen umher, in der Nacht, als sich mehr als sonst die Blicke gegen den dunklen Himmel richten. Oben, über den Häusern und dem grauen Eis des Sees, scheint ein farbiger Nebel auf, ein dünnes Echo auf die Lichter der Stadt. Natürlich denken wir alle an Polarlichter, und dass das, was wir sehen, ihre Vorboten seien. Wenig später dann brennt wirklich und unbekannt die Nacht über unseren Köpfen. Während von der Brücke her gesehen die schlanken Lichtkörper sich in Leuchtkraft und Färbung gegen oben hin verstärken, falllen sie vom Uferweg aus in sich zusammen, sind bloss noch bleicher Dunst. Als ich mit meinem Fahrrad unter dem verzauberten Himmel hin- und her fahre und nach dem besten Standort für meine Kamera suche, geht mir das Wort «Nachtkerzen» nicht aus dem Sinn. Die Flammen scheinen von der Beleuchtung der Stadt zu zehren, als verbrannten sie ihren Strom in der von Eisnadeln erfüllten dunklen Luft ein zweites Mal «Die Flamme ist eine tapfere und zerbrechliche Vertikale. Ein Hauch stört die Flamme, aber sie richtet sich wieder auf.» (1) schreibt Gaston Bachelard in «Die Flamme einer Kerze». Diese unermüdliche «bewohnte Vertikalität» ist es, die «das Zimmer von Bachelards Kerzenträumer in eine Stimmung der Vertikalität taucht. (2) Weiter schreibt er: «Und was für eine grosse Stunde, was für eine schöne Stunde, wenn die Kerze gut brennt! Welche Köstlichkeit ist in der Flamme, die sich streckt, die verweht!» (1) 3ie geschieht dem Träumer jedoch angesichts der aufscheinenden und verblassenden Licht-Säulen, des schwebenden, selbst bewegungslosen Hologramms am Polarhimmel, das man sich durch eigene Bewegung erschliessen muss, das so unerbittlich still im dunklen, eisigen Himmel steht? Das Bild gerät erst im Nachhinein in unerwartete Bewegung, wenn ich weiss, dass die stillen Lichter sich an denselben sechseckigen Eisplättchen entzünden wie die Nebensonnen auch: gleich geflügelten Lindensamen kreisen die Kristalle in windstiller Luft hoch über der Stadt um ihren Mittelpunkt, schrauben sich unendlich langsam den Strassenlampen entgegen, und spiegeln dabei deren Lichter gegen unten. Erinnern wir uns an die auf Wellenkämmen tanzenden Reflexionen einer Uferpromenade: nun ist es, als stünden wir Kopf, oder als wogte über unseren Köpfen die schwarze See. Wenn ich Bachelards Metapher «der Stengel der Flamme ist so gerade, so zart, dass die Flamme eine Blume ist» (1) 4uf jene kalten Nacht anwende, dann staunten wir unter sinkenden Eisblumen. In ihrem Licht schwimmen die Lachse vor den Turbinen in schwarzem Wasser und verlernen das Wandern.
Lorenz Schmid
(1) Bachelard, Gaston. Die Flamme einer Kerze. Michael Krüger (Hrsg.)
Übers. von Gloria von Wroblenski. Hanser, München, 1988 S. 59 f
(2) Bachelard, S. 60
(3) Bachelard, ebd.
(4) Bachelard, ebd